Rückblick zum 20jährigen Jubiläum des Jugendhof Estetal e.V.

Die Geschichte des Jugendhofes Estetal begann eigentlich schon vor 25 Jahren im April 1962. In diesem Jahr erwarb der „RING BUNDISCIER JUGEND IN HAMBURG e.V.“ das 40.000 qm große ehemalige Gewehr- und MG-Schießstands-Gelände der Kriegsmarine von der Bundesvermögensverwaltung. Das auf dem Areal befindliche langestreckte, reetgedeckte Offizierskasino war für Zwecke der Jugendpflege noch wenig geeignet. Es folgte ein mehrjähriger Umbau, an der die Bünde sich mit ihren Jugendlichen in vielen Wochenendeinsätzen beteiligten.

Diese Pionierzeit war geprägt vom Gemeinschaftsgeist, von Lagerfeuerromantik und großartigen musischen Leistungen. Daneben wurde aber auch zunehmend der Wille deutlich, am gesellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen. In Seminarform wurde im Jugendhof das notwendige Wissen dazu erarbeitet.

Höhepunkte dieser Linie waren zweifellos mehrere Austauschbegegnungen hier in Ottensen mit dem Jugendverband der UdSSR, immerhin schon zu Zeiten, als dies noch gar nicht schicklich war. Aus dem starken Gemeinschaftsgefühl und dem Willen, in und für diese Gesellschaft und diesen Staat Verantwortung zu übernehmen, wuchs die Idee, aus der Begegnungsstätte Jugendhof eine Heimstatt für Kinder und Jugendliche zu machen, die, aus welchen Gründen auch immer, dem Staat zur Erziehung überlassen wurden.

1967 Konkretisiert wurde dies durch die Gründung des Trägervereins „JUGENDHOF ESTETAL e.V.“ am l. Oktober 1967. Mit wohlwollender Förderung durch die damalige Hamburger Jugendsenatorin und ihren leitenden Beamten konnte der Betrieb des Kinderheimes bereits im November 1967 aufgenommen werden. Bereits Ende des Jahres wurden 2o Jungen (koedukativ wurde es erst drei Jahre später) im Alter von 6 bis 14 Jahren betreut und zwar mit der heute nicht mehr vorstellbaren Besetzung mit zwei Erziehern, einem Praktikanten, einer Hausfrau und dem Heimleiter mit Sonderschulausbildung. Der Pflegesatz war mit DM 25,50 entsprechend niedrig.

Obwohl wir uns schon bald zur Erlangung besserer Arbeitsbedingungen den Mantel „heilpädagogisch orientiert“ umhängten, gab es noch keine in sich schlüssige Konzeption. Träger wie Mitarbeiter waren noch Lernende, zwar voller Idealismus aber mehr intuitiv als fachlich-professionell handelnd. Stilelemente aus den bündischen Zeiten wurden methodisch verwandt: Im Vordergrund stand eine Erlebnis- und Gruppenpädagogik mit Zelt und Lagerfeuer. Fahrten ins Ausland. Mit Nachtwanderungen und Geländespielen wurden ebenfalls Bewegungs- und Abenteuerbedürfnisse abgesättigt. Einheitliche Wetterkleidung. bunte Abende mit Klampfen, Musik und Vorlesungen stärkten das Gruppengefühl. Trotzdem (oder deswegen) konnte es aber auch passieren, dass drei Jugendliche mit dem Auto des Heimleiters in Garmisch aufgegriffen wurden, als sie dort in einen Gartenzaun fuhren.

Auch an dem örtlichen Umfeld ging der Aufbau des Kinderheimes nicht spurlos vorüber. Zwanzig fremde Kinder in einer gewachsenen dörflichen Gemeinschaft sorgten für Gesprächsstoff. Nachdem die Landwirte aber gelernt hatten, ihre Fahrräder bei der Feldarbeit nicht mehr an der Straße abzustellen, ging die Kooperation immerhin soweit, dass wir zu den dörflichen Festen eingeladen wurden.

Echte Probleme gab es bei der „Beschulung“ unserer Kinder. Schulen und Lehrer waren zum Teil überfordert und reagierten mit Beurlaubungen. Einmal wurde immerhin auch die Ottenser Grundschule von Gemeinderatsmitgliedern „besetzt“, um unsere Kinder nicht in das Schulgebäude zu lassen. Ein Missverständnis, wie sich hinterher herausstellte, da der diensthabende Erzieher provozierend den VW-Bus mit zwölf Kindern vollgepackt hatte, von denen aber nur drei in die Grundschule gehörten.

Diese erste Entwicklungsphase ist namentlich mit den beiden Sonderschullehrern Rolf Nielsen und Johannes Machill verbunden, die mit großem persönlichen Einsatz die vielen pädagogischen und organisatorischen Probleme in den Griff zu bekommen versuchten.

1970 Mit der Einstellung des Diplom-Psychologen Martin Fink (heute Jugendhof Osterndorf und Jugendschiff „Outlaw“), der berufliche Erfahrungen aus mehreren Heimen und Kliniken mitbrachte, wurde die Arbeit professioneller. Immerhin gab es in den ersten Jahren dieser Phase auch eine wissenschaftliche Beratung durch den bekannten Professor für Psychologie und Sozialpädagogik Curt Bondy. Mit der parallelen Anstellung der ersten Sozialpädagogen wurde die Arbeit nun richtig „heilpädagogisch“. Ziel war nicht mehr die große Gruppengemeinschaft, in die sich alle einzufügen hatten, sondern die Behebung individueller milieubedingter Störungen in der psychischen Entwicklung der Kinder. Es ging um neue Begriffe wie Akzeptanz der Person und der Problematik, Schaffung eines „therapeutischen Milieus“ oder um die Stärkung von Ich-Funktionen. Redl und Wineman („Kinder, die hassen“) aber auch Bettelheim („Liebe allein genügt nicht“) wurden zur Pflichtlektüre des Erziehungspersonals.

Eine so auf den Einzelnen ausgerichtete Pädagogik erforderte eine neue Struktur des Hauses. Statt der bisherigen Groß-Gruppen waren dezentralisierte Kleingruppen mit 6 bis 8 Jungen und Mädchen angesagt. Es wurde das Blockhaus (1971) gebaut und eine Kleingruppe in Apensen (1972) eingerichtet.

Später folgte die Stadthausgruppe in Buxtehude und für ältere Jugendliche die Anmietung von Wohnraum in der Stadt.

Aber auch im Schulbereich wurden neue Wege begangen. Die Problematik der verhaltensauffälligen Kinder in den öffentlichen Schulen wurde durch den Betrieb einer staatlich anerkannten Ersatzschule gemildert. Das Ziel der Reintegration in die öffentlichen Schulen wurde mit projektbezogenem Unterricht und mit einem großzügigeren Reglement (mehr Sozialpädagogik als Wissensvermittlung) erreicht.
Mit der Erfindung der Schiffspädagogik wurden die Gefahren der Nord- und Ostsee als Lernfeld aktiviert. Auf dem Glühkopfmotor-Kutter „ODE“ (1974) erfuhren die Kinder und Jugendlichen Selbstvertrauen in sich und ihre Fähigkeiten, wenn die Brecher über Deck schlugen.

Auslandsfahrten mit Zelt und VW-Bus wurden beibehalten. Sie wurden allerdings zu kunsthistorischen Kursen erhöht, auf denen sich die Kinder mit eigener Leinwand, Farbe und Pinsel kreativ betätigten.
Der Jugendhof Estetal erwarb zu dieser Zeit bei den Jugendämtern den Ruf, auch schwierigste Kinder aufzunehmen. Kinder, die keiner mehr haben wollte, weil ihr aggressives oder kriminelles Fehlverhalten sie für jede Gemeinschaft untragbar erscheinen ließ.

Es gelang tatsächlich, viele dieser Kinder und Jugendlichen zu beheimaten. In Martin Fink fanden sie eine schützende und helfende Hand. Ganz im analytischen Therapieverständnis war er Vater und Übervater. Er war allerdings auch Entscheidungsinstanz. Die hierarchische Struktur der pädagogischen und organisatorischen Abläufe war durchgängig und führte, als mittlerweile 36 Kinder zu betreuen waren, zu den Forderungen nach mehr Gruppenautonomie, mehr Erziehungsplanung und Effizienzkontrolle.

1976 Mit dem Magister Artium (M.A.) Herbert Theis als neuem Heimleiter wurde in einigen Bereichen alles anders bzw. fortentwickelt. Herbert Theis hatte neben Pädagogik auch die politischen Wissenschaften studiert und an den studentischen Reformbestrebungen der späten sechziger Jahre teilgenommen. Dies machte sich u.a. im Führungsstil bemerkbar. Der Heimleiter war nicht mehr Patriarch, sondern Gleicher unter Gleichen. Es wurden demokratische Regelugen eingeführt wie stimmberechtigte Mitarbeiterkonferenzen, die Wahl der Heimleitung oder Bildung von Kinderkonferenzen.

Verfahrensfragen wurden in einer Geschäftsordnung niedergelegt. Die Rechte des Heimleiters wurden bis auf ein Vetorecht an die Konferenz delegiert. Die Mitbestimmung der Mitarbeiter in allen grundsätzlichen pädagogischen Fragen, wie z. B. Aufnahme oder Entlassung von Kindern, wurde groß geschrieben.

Es gab zig Ausschüsse. Auch arbeitsrechtliche Probleme, wie Anstellungsverträge und Arbeitsbedingungen, wurden in einem Ausschuss mehrheitlich geregelt. In Personalangelegenheiten konnte der Vorstand sogar von den gewählten Arbeitnehmervertretern überstimmt werden. Dieses Mitbestimmungsmodell 1ief über Jahre relativ gut, wenn auch die Meinungsbildung manchmal recht zeitaufwendig war. Als dann aber weniger Kinder zur Aufnahme anstanden und Personal entlassen werden musste sowie Finanzierungsprobleme u.a. durch Sparmaßnahmen zu bewältigen waren, zeigten sich die Grenzen dieses Modells deutlich. Die Mitarbeiter vertrauten nun lieber die Lösung ihrer Personalprobleme einem Betriebsrat an.
Die Binnendifferenzierung des Heimes wurde vorangebracht. Durch den Abbrand zweier Häuser in Ottensen und Buxtehude (1977/79) ergab sich die Gelegenheit, die Wiederaufbauten den pädagogischen Bedürfnissen anzupassen. Erstmals wurde eine Wohngemeinschaft mit älteren Jugendlichen und „Beratungscharakter“ eingerichtet (Sandereiweg). Eine Wohngruppe mit landwirtschaftlichem Einschlag kam in Ahrensmoor dazu. Rundherum rankten sich mehrere Familiengruppen, in denen 3 bis 4 Kinder in häuslicher Gemeinschaft mit einem Erzieher-Ehepaar wohnten.

Es versteht sich, dass in dieser Zeit verstärkt Wert auf fachliche Kompetenz der Mitarbeiter gelegt wurde. Es fanden regelmäßig Schulungen statt, auf den Konferenzen wurden grundlegende konzeptionelle, pädagogische oder methodische Fragen ausführlich besprochen; ein Psychologe stand helfend zur Seite. In Fallgesprächen wurden die Erziehungsplanungen entwickelt und laufend überprüft. Selbstverständlich ist inzwischen, dass die Mitarbeiter ihr Tun in Supervisionssitzungen hinterfragen.
1987 Der Jugendhof Estetal ist heute eine heilpädagogische Einrichtung mit großer Binnendifferenzierung. Das Angebot umfasst stationäre Betreuung (Wohn- und Familiengruppen, Wohngemeinschaften) und Intensive Einzel Betreuungen (Mobile Betreuung) sowie Betreutes Wohnen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht der sozialpädagogische Auftrag sowohl im Rahmen des JWG`s Erziehungshilfen wie auch im Rahmen des BSHG’s Eingliederungshilfen und Rehabilitation in sozial schwierigen Lebenslagen zu leisten

-Helmut Jaeger-
Vorsitzender des Trägervereins (1967-noch)

Rückblick zum 50jährigen Jubiläum des Jugendhof Estetal e.V.

(ein unvollständiger Überblick über die Entwicklung besonders der Methoden)

Von der Freizeitpädagogik zur Lebensweltorientierung

Das vom Ring Bündischer Jugend Hamburg genutzte Gelände, vorwiegend für Wochenend- und Ferienlager, wurde im Oktober 1967 in ein heilpädagogisches Kinderheim für verhaltensauffällige Kinder umgewandelt. Da sich unter den Gründern neben einigen Kaufleuten viele Sonderschullehrer im hamburgischen Schuldienst befanden, bot sich dies an. Das eifrige Fahrtenleben wurde zunächst auch im Kinderheim weitergeführt und wandelte sich zu der in der damaligen Zeit beginnenden Erlebnispädagogik und bei uns dann weiter zur Schiffspädagogik. Damit sind glorreiche Schiffsnamen wie „Goldfinger“ und „ODE“ verbunden. In gemeinsamem Arbeiten und Nutzen am und auf dem Schiff in Verbindung mit der damals gegründeten Heimsonderschule V. (Estetal-Schule) entwickelte sich eine recht dynamische Zeit, in der viel über Lernmodelle wie Twind-Schulen / Reformpädagogik nachgedacht und diskutiert und Möglichkeiten der Umsetzung probiert wurden.

Im Zuge der Heimreform in den Siebziger Jahren wurden die Großheime aufgelöst, wir veränderten die Gruppengrößen von 10 auf nach und nach 8-6 Plätze und inzwischen auf eine nicht festgelegte Gruppengröße im Erzieher/Kind-Schlüssel 1:2., nahmen die ersten Mädchen auf, hatten Koedukationsgruppen und gingen mit unseren Gruppen „über die Dörfer“, um eine bessere Integration in das soziale Umfeld zu erreichen. Mit zunehmender Dezentralisierung ging auch eine weitgehende Selbstverwaltung der einzelnen Gruppen einher. Mit dem schon vor vielen Jahren begonnenen Betreuten Einzelwohnen kamen wir „dem sich am Jugendlichen orientieren“ schon damals sehr nahe.

Eine weitere strukturelle Veränderung war die Einrichtung von Familiengruppen, zu verstehen wie professionelle Pflegefamilien. Die Familien waren zumindest durch eine/einen Erzieher/Sozialpädagogen mit längerer beruflicher Vorerfahrung in der Einrichtung qualifiziert.

Über viele Jahre waren Mitbestimmungsdiskussionen unter den Erwachsenen wie auch Mitbestimmungsrechte der Kinder ein wichtiges Thema und führten zur Wahl von Heimsprechern, die die Interessen Ihrer Mitbewohner in der Konferenz vertreten konnten. Auf der gestalterischen Ebene war die Herstellung und Erarbeitung einer Heimzeitung („Durchblick“) Ausdruck der internen Meinungsbildung.

Ein zusätzlicher Impuls kam dann mit einer Heilpädagogin als Heimleiterin, die durch ihre Ausbildung den Bereich der Behinderungen stärker in den Mittelpunkt stellte und uns u.a. mit der Aufnahme von Kindern mit autistischen Zügen ein bis dahin nicht gekanntes Tätigkeitsfeld nahe brachte, mit dem wir uns nun neu auseinandersetzen mussten. Zu den bisher mehr nach außen agierenden Kindern und Jugendlichen kamen nun die stärker auf sich bezogenen jungen Menschen.

Die Qualitätsdiskussion und Messbarkeit von Erfolgen und Wirkungen nahm und nimmt immer wieder mehr oder weniger großen Raum ein. Für die Erlangung von eigenständigem Handeln, eines ausreichenden Selbstbewusstseins und der Entwicklung von Lebensperspektiven gibt es eben keine allgemein gültigen Rezepturen und auch keine Erfolgsgarantie.

Als Leitlinie unseres Handelns haben wir den Denkansatz von dem Schweizer Heilpädagogen Paul Moor übernommen: „Erkennen. Verstehen, Heilen (Behandeln)“. So bemühen wir uns, das Kind/Jugendlichen in seiner Individualität und dem Gesamtkontext seiner Biografie und des sozialen Umfeldes zu verstehen, um ihm das zu vermitteln (unter zu Hilfenahme aller angrenzenden fach- und gemeinschaftsfördernden Gremien), was er zu einem gelingenden Leben in der Gemeinschaft benötigt. Wir sind uns dabei der Wirkungen eines „therapeutischen Milieus“ bewusst.

Die fachliche Ausbildung und Eignung der Mitarbeiter ist Voraussetzung zur Arbeit, die persönliche Kompetenz die wirkungsvollste Voraussetzung zur Beziehungsaufnahme, ohne die keine positive Entwicklung möglich scheint. In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit mit der Herkunftsfamilie eine wichtige unterstützende Maßnahme, wie bereits im Vorfeld der stationären Maßnahmen als sozialpädagogische Familienhilfe geleistet werden kann oder als eigenständiges Angebot wirksam wird. Hier wird der Einsatz der „systemischen Familienhilfe“ zum Begriff.

Zurzeit bemüht sich die pädagogische Leitung den ganzheitlichen Ansatz nach Rudolf Steiner: „Lernen mit Hirn, Herz und Hand“ zu installieren, um durch ein erfolgreiches Leben in der Gemeinschaft, Individualität zu entwickeln. Schwerpunktmäßige Unterstützung wie in kreativen Methoden (Musik, Kunst etc.) gesehen, ebenso wie der „Halt gebende Erzieher“ der Strukturen setzt und als Modell dient.

Rückblickend fällt auf, dass die in den 60/70iger Jahren von Magda Kelber, Gisela Konopka und Liesl Werniger favorisierte soziale Gruppenarbeit/ Gruppenpädagogik als Rahmenprogramm und Strukturhilfe bis heute Gültigkeit behalten hat und alle weiteren Methoden integriert. Die Arbeitsprinzipien

1. Anfangen, wo die Gruppe steht und sich mit ihr in Bewegung setzen
2. Programm
3. Individualisieren
4. Mit den Stärken arbeiten

Dass sich der Jugendhof bis heute in der sich schnell verändernden sozialpädagogischen Landschaft gehalten hat, ist unter anderem allen ehemaligen und heutigen Mitarbeitern zu verdanken.
Persönliches Engagement, Fachwissen und Sachverstand sind ebenso wichtig wie die Fähigkeit, emotionale Beziehungen einzugehen. Über dem Ganzen wacht der ehrenamtliche Vorstand, der in einem immer komplexeren Verfahren die Mittel einwirbt und den Daumen auf der Kasse hat.

Leonore Jaeger
Dipl.Soz.Päd. und ehemalige Erziehungsleiterin (1992-2008)